Das Selbst und seine fragile Existenz – Ein Besuch im Pergamonmuseum

Sapho mit Stift und Buch

Was hat eine alte Holzkiste mit Selbstwerdung zu tun?

Vor einiger Zeit hatte ich ein seltsames Erlebnis in Sachen des Objektiven Geistes, vielleicht auch in Sachen meiner selbst oder auch meines Selbst. Es war folgendermaßen: Wir hatten das neue Pergamon-Panorama besucht und gingen dann noch ins Pergamon-Museum selbst, wo eine riesige Warteschlange an der Kasse von uns locker überholt werden durfte. Wir schlenderten zunächst eher ziellos durch Smartphone-gerüstete Touristengruppen und betrachteten einzelne Objekte. Eines davon war eine unscheinbare große Holzkiste, der man ihre 100 Jahre ansah. Die Kreideaufschrift verkündete „blaue Keramik". Ihr Inhalt: ein schmutziger Haufen Scherben von gebranntem Ton, sorgfältig mit Packpapier ausgepolstert. Die Hinweistafel berichtete: Fünfhundert dieser Kisten hatten deutsche Archäologen um 1900 aus dem Zweistromland nach Berlin verschiffen lassen, Überreste von Keramikziegeln des Ischtar-Tores aus der Zeit des Nebukadnezar. Diese glasierten Ziegelbruchstücke fanden sich im 19. Jhd. als Schuttberge verborgen unter einer Erdschicht.

Wer das rekonstruierte Tor vor sich sieht und daneben diese Kiste mit den Scherben, der bekommt eine Ahnung von der Leistung, die erbracht wurde, um dieses Wunder an Schönheit wieder auferstehen zu lassen. Alle daran Beteiligten mussten hierzu über Jahre eine Sisyphos-Arbeit auf sich nehmen, bei der nicht ausgemacht war, dass sie dieses Ergebnis auch zeitigen würde. Warum nahmen diese Menschen das auf sich?

Eine Antwort könnte sein: Weil sie durchdrungen waren von der Idee, dass diese untergegangene Kultur Bestandteil eines Objektiven Geistes ist, in dessen Tradition wir bis heute stehen. Das mag nun nach bildungsbürgerlichem Pathos klingen. Dieses Gefühl einer historischen Verkettung verdanken wir dem Aufklärungszeitalter. Dessen Geist war in G.W.F. Hegel und auch im frühen 20. Jahrhundert noch lebendig. Ein Archäologe und selbst der Arbeiter, der die Steinbrocken aus dieser Kiste reinigte, war in gewisser Weise dieses Geistes Kind. Will man es wertphilosophisch ausdrücken: Jene Menschen stellten sich in den Dienst der Erhaltung von etwas objektiv Wertvollem, an dessen ästhetischem Wert wir heute noch teilhaben können. Sie nahmen die Last und die Verantwortung hierfür auf sich. Es sei dahingestellt, ob nun auch jeder der im Zweistromland schuftenden Arbeiter damit angemessen beschrieben wird.
Auch wenn heute niemand mehr den Namen dieser Menschen kennt, sie haben damals mit ihrer Leistung vermutlich ihr Selbst weiterentwickelt; jeder im Kontext seiner Möglichkeiten. Sie taten damit etwas, was im Wertgefühl des 19. Jhdts. noch fest verankert war: Sie erlebten sich als Mitarbeiter im großen Projekt, das die Fundamente einer Menschheitskultur erforschte. Sie hatten aktiv Anteil an einer großen Bewegung, von deren Fortschreiten man überzeugt war. Und faktisch waren sie das auch, da sie es mittrugen durch ihr Tun.

Wenn wir heute dazu neigen, diesen Fortschritt skeptisch zu betrachten, so sollten wir nicht vergessen, dass er neben allem Größenwahn eben auch etwas hervorgebracht hat, was wirkliches geistiges Neuland bedeutetet. Der Geist des Historismus des ausgehenden 19. Jhdts. war keine Form des Ahnenkultes, wie wir ihn aus anderen Kulturen kennen. Wozu ideologisches Bewusstsein fähig ist, sehen wir an den Bilderstürmern heutiger Zeit, die nicht nur im Nahen Osten für den einzig wahren Glauben kämpfen.

Das alles ging mir nach dem Anblick der alten Holzkiste durch den Sinn. Im Museum war es zuerst nur ein eigentümliches Gefühl des Berührt-Werdens: Ich war also das derzeitige Ende einer langen Kette, die eine unübersehbare Folge der Generationen verbindet, die uns bis zu diesem winzigen Punkt im Hier und Jetzt geführt hat. Immer waren es Menschen, die an etwas bauten, damit die Hoffnung auf ein menschlicheres Leben erhalten bleibt. Sie konnten in der Regel nicht darüber bestimmen, ob sie gerade an dem jeweiligen Gebäude mitarbeiten wollten; zum Sklaven beim Bau des Ischtar-Tores jedenfalls wurde man gemacht.

Mein Dankbarkeitsgefühl galt all den unterschiedlichen Beteiligten. In dieses Gefühl mischte sich ein anderes: Wenn diese Dankbarkeit echt sein wollte, dann stand ich in der Schuld aller dieser am Bau und am Wiederaufbau Beteiligten. Insofern erregt ein Kunstwerk nicht einfach „interessenloses Wohlgefallen", wie Kant es meinte. Gewissermaßen sind wir aufgefordert, unseren Teil am Erhalt der Kultur zu leisten, die uns vom Kunstwerk zugänglich gemacht wird.

In derartige Sklavendienste werden wir Mitteleuropäer in der Regel nicht mehr gezwungen. Wir Heutigen stehen an einer anderen Stelle in dieser Generationenkette und können uns fragen, an welchem Projekt unsere Person wachsen soll. Allerdings haben wir weiterhin manches mit dem Bausklaven am Ischtar-Tor gemein. Das Wachstum unseres Selbst hängt davon ab, welche Aufgaben wir in unserem Leben auf uns nehmen. Denn, was anderes ist mein Selbst als die Summe der Handlungen und Beziehungen, in denen sich mein Ich in der Welt verankert. Mein Selbstgefühl hängt ab vom seelisch-geistigen ‚Gewicht' der Handlungen, die ich tagtäglich auf mich nehme. Und zugleich noch davon, was ich als meine Lebensaufgabe festhalte.
Dabei ist es nicht egal, welche Aufgabe ich zu der meinen mache. Beim erwachsenen Menschen kommt es vermutlich darauf an, dass er diejenige Aufgabe weiterführt, die seine Stellung in der Welt bisher maßgebend bestimmt hat. Nur wenn wir auch an der Weitergabe der damit verbundenen Qualifikationen beteiligt sind, wird unser Leben generativ. Ohne diese Generativität ...

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