Macht uns Corona menschlicher? – Ein Zukunftsforscher im März 2020

Sapho mit Stift und Buch

Warum sollte man jetzt von Albert Camus Die Pest lesen?

Ich habe gerade den Text von Matthias Horx ein zweites Mal gelesen. Insgesamt blieb meine freundliche Distanz zum darin Gesagten bestehen. Horx vertritt ja die nicht ganz unbekannte These, dass wir in pessimistischer Stimmung gewöhnlich das Zukünftige – also das erst noch Kommende – durch eine negative Brille betrachten. Das Negative am Gegenwärtigen werde in die Zukunft verlängert. 

Gewiss: Wir steigen schon seit Heraklit nicht zweimal in bzw. aus dem gleichen Fluss. Doch die Vermutung, wir würden aus einer solchen Situation wie der jetzigen sozusagen wie aus einem reinigenden Bad herauskommen, erscheint mir eine Wunschvorstellung. Warum sollte aus dem reaktiv-reumütigen Schuld-Bewusstsein, dass wir allemal „Sünder" sind (Naturzerstörer mit süchtigem Konsumstreben etc.), diesmal echte Einsicht erwachsen. Welche Krise hätte derartiges jemals bewirkt? Zwei Weltkriege? 2009? Der jeweilige Crash brachte effektiv nur einen weiteren ‚Leistungsbeweis‘ für die Überlebensfähigkeit des Kapitalismus in einem modifizierten Weiter so. 

Vielleicht wird mancher das nun als Ausdruck meines pessimistischen Weltbildes interpretieren. Vielleicht hoffe ich doch (wie Horx!?) auf die Möglichkeiten von uns Menschen, dass wir uns allem Absurden zum Trotz revoltierend für unser ureigenes Anliegen in dieser Welt einsetzen. Gegen Kapitalismus, Umweltzerstörung etc. zu sein, ist noch keine Motivation; denn das gebietet schon menschliche Logik. Aber das Nicht-so-sein-Wollen wie Vati oder Mutti allein, mündet gewöhnlich in die Übernahme mit bloß umgekehrtem Vorzeichen. Wir entwerten unsere ehemaligen geliebten Vorbilder in unserer Enttäuschung und schütten das darin liegende Positive mit dem Bade aus. Mit den verneinten Vorbildern verneinen wir ungewollt uns selbst. 

Mein eigener Versuch geht dahin, stärker auf das zu schauen, was sich uns im Alltag zeigt. Das heißt nach den wirklichen Gegebenheiten zu forschen. So, wie sich diese mir zeigen, sind wir leider durch Corona auf nicht absehbare Zeit in eine Situation gezwungen, mit Bedingungen zu leben, die noch mehr von einem Gelebt-Werden haben als vorher schon uns die schöne neue Welt hatte. Wie ist das gemeint? Ich möchte das an einem Beispiel aus der letzten Woche verdeutlichen. Ein mittlerweile 40jähriger Patient gehört zu den sehr geübten Prokrastinierern. Er hatte, bevor es mit der neuen Corona-Zeitrechnung losging, in seinem nunmehr zweiten Versuch ein Studium zu bewältigen, todesmutig den dritten Anlauf zu einer Klausur gewagt und tatsächlich auch geschafft. Andernfalls wäre es mit seinem Studientraum aus gewesen. Überglücklich angesichts seiner Überwindungsleistung, überzeugt von den Wirkungen seiner Psychotherapie, stellte er nun fest, dass er doch jetzt grenzenlos Zeit habe, sich für kommende Klausuren vorzubereiten. Aber: ... man ahnt es bereits…!

Und nun seine Erzählung: Nachdem er mal wieder nicht habe lernen können, sei er folgender Phantasie nachgehangen: Was gäbe er alles dafür, wenn jetzt die Zeit für ein paar Tage anhielte. Durch niemanden und nichts würde er sich vom Pauken abhalten lassen! Aber die Zeit lief eben ihren gewohnten Lauf.
Und dann sein Kommentar zur Corona-Gegenwart: Jetzt, verdammt nochmal, hat mich das Schicksal auch noch erhört und - ich setze mich noch weniger denn je ans Lernen! So seltsam privat wird also unsere Logik, wenn uns im ganz alltäglichen Leben etwas zu nahe rückt.

Mir gingen die Augen auf beim Lesen von Camus' Die Pest - meine derzeitige Lektüre - wo sich die Beschreibung all dessen findet, was sich seit Februar in unserer Welt wie nach Camus’ Drehbuch abspielt. Er bezeichnet diese und die vielen weiteren Monate als einen „Spuk“, der genau so vorbei ging, wie er begonnen hatte; als ein uns völlig wesensfremdes, also unheimliches Geschehen, das in keine unserer Verarbeitungsmöglichkeiten passt. Es geschieht, ohne wirklich zum Erleben zu werden. In diesem Falle darf man vom traumatischen Geschehen sprechen...

weiterlesen im PDF