Thomas Mann: Joseph und seine Brüder – Zum Problem der personalen Existenz im 20. Jahrhundert

Sapho mit Stift und Buch

Die Geschichte eines verwöhnten Knaben

Die großen Entwicklungsromane der Weltliteratur sind nicht selten Geschichten des Scheiterns. Seit dem 19. Jahrhundert wurde das Misslingen hoffnungsvoll begonnener Lebenswege zum Kennzeichen  dieser Gattung. Vor allem Thomas Mann (1875-1955) ging lange der Ruf eines ausgewiesenen Experten für die kunstvolle Gestaltung personaler Katastrophen voraus. 

Seine letzten Romane jedoch, insbesondere die vier Bücher über Joseph und seine Brüder, fielen in dieser Hinsicht unzeitgemäß aus: Ihr Protagonist vollzieht vor den Augen des Lesers eine durchaus glaubwürdige Entwicklung. Bevor aber diese ganzheitliche Person vor uns steht, erleben wir den Heranwachsenden als problematische Figur: Ein überaus schöner und verwöhnter Knabe, der hemmungslos die Vorzugsrolle eines Lieblingssohnes des biblischen Jaakob auslebt. Doch dieser vom Schicksal Erwählte gerät in Krisensituationen, aus denen er zuletzt gewandelt hervorgeht: Joseph der Ernährer bestimmt schließlich als der Mann neben Pharao in kluger Vorhersehung die Geschicke eines ganzen Volkes. Immerhin braucht es 2000 Seiten, um uns Lesern diesen Prozess glaubhaft zu machen.

Thomas Mann beendete das Mammutprojekt Josephs-Tetralogie 1943 im kalifornischen Exil. Als zehn Jahre zuvor der erste Band, Die Geschichten Jaakobs, ins Reine diktiert war, so berichtet TM amüsiert, habe seine Sekretärin ausgerufen: „Nun weiß man doch endlich, wie sich das alles in Wirklichkeit zugetragen hat!“ Diese anekdotische Wendung sagt viel über die Wirkung der Lektüre: Der Leser kann sich der Bewunderung für die Erzählkunst ihres Autors nicht entziehen. Dabei wird er vom Erzähler nicht überrumpelt. Nur ausnahmsweise zieht TM uns affektiv in die Geschichte. Vielmehr stellt sich eine eigentümliche Distanz zum Geschilderten her, die dem Leser nahelegt, das berichtete Geschehen selbst auch gedanklich zu durchdringen. Das wiederum fordert einiges an Frustrationstoleranz; denn längere Ausführungen über anthropologische, kulturanalytische und auch philosophische Sachverhalte konfrontieren mit den Grenzen der eigenen Vorbildung. Das macht den Roman trotz spannender Handlung zu keiner leicht zugänglichen Bettlektüre. 

Die Josephs-Geschichte aber ist in entwicklungspsychologischer Hinsicht eine Fundgrube. Sie öffnet uns die Augen dafür, dass nichts am Menschen ohne Bezug zu dem ist, was wir die Persönlichkeit, den Charakter oder auch die Weltanschauung eines Menschen nennen. Die hier verarbeitete alttestamentarische Legende wird eingebettet in ein ganzes Weltpanorama, das ebenso liebevoll geschildert wird wie dessen Menschen. Dass diese Welt der Einbildungskraft des Autors entspringt, und dass sie von Zeiten handelt, die tief im Brunnen der Vergangenheit liegen, erweist sich hierbei als Vorteil. Die im Roman erscheinende Welt ist historisch gesehen nicht die unsere, und doch ist sie dem Leser eigentümlich gegenwärtig. Dass wir uns von Joseph angesprochen fühlen, scheint nicht eigentlich an seinem Charakter zu liegen. Durch die psychopathologische Brille betrachtet, ist der Protagonist schlicht ein narzisstischer Angeber. Doch uns Leser und die Mitmenschen seiner Umgebung zieht dieser vom Schicksal Bevorzugte durch eine geheimnisvolle Liebenswürdigkeit in Bann.

Zunächst ist Joseph nur das verwöhnte und kluge Lieblingskind des Vaters. Seine Mutter Rahel starb bei der Geburt des zweiten Sohnes Benjamin (hebräisch Benoni = Sohn des Todes). Der inzwischen greise Jaakob, verkörpert das würdige Oberhaupt eines semitischen Hirtenvölkchens, das auf seiner Wanderung von Weideplatz zu Weideplatz an Macht und Umfang zugenommen hatte. Im Lande Kanaan, einem Teil des heutigen Israel, hat die zu einem Beduinenvölkchen angewachsene Jaakob-Sippe seit längerem schon ihren Aufenthalt. Die eindrückliche Führergestalt des Stammesoberhauptes ist ein hingebungsvoll Suchender nach dem einzigen, dem wahren Gott; ihm graust es vor der Vielgötterei der östlichen Welt, der er auf seiner Lebenswanderung überall begegnete. Neben der Suche nach dem einen Gott gilt seine ganze Zärtlichkeit dem ersten Sohn der lieblichen Rahel, einem von aller Welt bewunderten hübschen Balg, dessen Bevorzugung fortwährend den Neid und Groll der Stiefbrüder erregt. Josephs kindisch-eitle Selbstgefälligkeit steigert schließlich deren Hass derart, dass sie ihn in einem überschießenden Wutaffekt verprügeln und gefesselt in die Tiefe eines trockenen Brunnens werfen.

Diese höchst konkrete Begegnung mit dem Realitätsprinzip löst bei dem 17-Jährigen eine erste Selbstbesinnung aus. Er kann dem Tod entrinnen und lässt sich von den Brüdern, ohne aufzubegehren, als Sklave nach Ägypten verkaufen. Indem er sein ihm zugeteiltes Schicksal annimmt, öffnet sich ihm ein Weg, den er als ...

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