Ein Adlerianer in Japan – Buchbesprechung

Sapho mit Stift und Buch

Du musst nicht von allen gemocht werden

Von einem Ausbildungskandidaten der Psychotherapie wurde ich auf das Buch eines Philosophen über die Ideen Alfred Adlers, dem Begründer der Individualpsychologie, aufmerksam gemacht: Es geht um den japanischen Autor Ichiro Kishimi, von dem ich bisher noch nichts gelesen hatte – und eigentlich hätte ich das Buch von Kishimi und seinem Co-Autor Fumitake Koga auch nicht gelesen, denn Titel und auch der Untertitel klingen penetrant nach Ratgeber-Literatur: Du musst nicht von allen gemocht werden – Vom Mut, sich nicht zu verbiegen.

Doch meine Vorbehalte schienen voreilig. Hier bringt ein Autor grundlegende Vorstellungen der Individualpsychologie ausgesprochen anschaulich herüber. Er  benutzt dazu eine Situation, die man als Beispiel einer psychotherapeutischen Begegnung verstehen kann: In der Patientenrolle steht vor uns Lesern ein junger Mann, der als Bibliothekar arbeitet und unzufrieden mit dieser Tätigkeit ist. Er hat offensichtlich mit Lebensschwierigkeiten zu kämpfen und sucht eigentlich selbst Hilfe, was er allerdings zu verbergen sucht, indem er anfangs von den Angstproblematik eines Freundes spricht. Dieser Freundwird als äußerst intelligenter Mann vorgestellt, der mit Panikattacken reagiere und sich in einer Angst-Feindseligkeits-Spirale nicht mehr aus der eigenen Wohnung traue. So weit die Eingangssituation.

Der 'Psychotherapeut' wird von Kishimi im Buch als Philosoph eingeführt, der offenbar jenseits des akademischen Betriebes ein eher kontemplatives Leben führt. Er scheint die 60 überschritten zu haben, liebt die antiken Griechen, hat eine Frau, wohl keine Kinder und verkörpert eine eigentümliche Selbstsicherheit. Vom Anschein seines In-sich-Ruhens fühlt sich der junge Mann angezogen.

Auch ich, der lesende Psychotherapeut, registriere, dass mich die durch nichts zu beunruhigende Gelassenheit anspricht. Dieser Kollege drückt mit einfachen Worten Sachverhalte aus, von denen er weiß, dass sie seinem jungen Gegenüber absurd erscheinen werden. Er wiederholt stoisch das Gesagte und greift immer wieder die Fäden des Gesprächsverlaufs auf. Über fünf Abende erweist sich der Philosoph als geduldiger und – heute würde man sagen – achtsamer Therapeut, der am Ende einen gelehrigen Schüler gewonnen hat. 

Angetreten hatte der junge Mann die 'Therapie' in der Überzeugung, er sei das Opfer übermächtiger Erzieher, die alles Eigene in ihm zunichte gemacht hätten, um ihn nach ihrem Bilde zu formen. Beendet werden die Gespräche in der Einsicht, auf diesen Opferstatus verzichten zu wollen, um künftig die Verantwortung für das eigene Handeln  auf sich zu nehmen.

Wer das Buch bis zum Ende gelesen hat, könnte manches gegen diese schöne Geschichte einer gelungenen ‚Kurzzeittherapie‘ einwenden. Auch gäbe es einiges zu ergänzen. Anfangs schien es so, als ob dieser philosophische Therapeut die  Psychologie Alfred Adlers tiefgründiger verstanden haben könnte als so mancher  Individualpsychologe.

Dazu muss man sich vor Augen führen, wie ein heutiger Tiefenpsychologe den Fall vermutlich behandeln würde. Zuerst stieße er auf einen seltsamen Widerspruch: Einerseits spricht dieser Patient dauernd von seinen Ängsten, die er anderen gegenüber empfindet und beklagt fehlende Anerkennung durch sein näheres Umfeld. Doch bei jeder passenden Gelegenheit erweist er sich seinem Therapeuten gegenüber als ziemlich kämpferischer Besserwisser; auch seine für die japanische Kultur unübliche demonstrativ legere Sitzhaltung deutet eine Überlegenheitsattitüde an.

Wäre der Therapeut nun so leichtsinnig, den angeblich so Ängstlichen auf diesen Gegensatz hinzuweisen, erginge es ihm wie dem Philosophen: Sein Patient bekundet mit einer Gebärde von Enttäuschung, dass auch dieser Therapeut, in den er so große Hoffnung gesetzt hatte, sich als ebenso verständnislos erweist wie der eigene Vater. Aus individualpsychologischer Perspektive ein Vorgang, den man unschwer als neurotisches Arrangement deuten kann.

Spätestens nach dieser ‚Vorwarnung’ befinden sich beide in einer prekären Übertragungs-Situation. Für den jungen Mann liegt die Ursache seines Missbefindens in einem angeblich traumatisierenden Mangel an Empathie seiner Eltern...

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