Charakter

Der Charakter ist das Schicksal des Menschen (Heraklit)

Das Wort Charakter bedeutet im Griechischen „das Gepräge". Die Beobachtung lehrt, dass jeder Mensch eine für ihn eigentümliche ‚Prägung' besitzt. Charakter äußert sich in allen Manifestationen seiner Person, vor allem aber in den sozialen Stellungnahmen und Handlungen. Es gibt ebenso viele Charakterbegriffe, wie es tiefenpsychologische Schulen und Lehrmeinungen gibt. Alle zu referieren, übersteigt unsere vorliegenden Möglichkeiten. Auch wenn dieser altehrwürdige Begriff in der dynamischen Psychologie in den Hintergrund geraten ist, so spricht schon seine Rolle in der Alltagsbewältigung dafür, ihn in ein wissenschaftliches Menschenbild zu integrieren.

Freud leitete den Charakter des Menschen im Wesentlichen von seiner Konstitution und von seinen frühkindlichen Triebschicksalen ab. Der Charakter wird hierbei zu einem Reaktionsprodukt auf frühe Befriedigungsmöglichkeiten, Versagungen und Fixierungen. So beschrieben die Psychoanalytiker orale, anale, phallische und genitale Charaktere. Die in diesem Zusammenhang aufgewiesenen Strukturmerkmale sind erhellend für die Psychologie des Alltagslebens wie auch für die Lehre von den psychischen Störungen.

Individualität, Temperament, Charakter und Persönlichkeit sind verwandte Begriffe, zwischen denen fließende Bedeutungsübergänge zu konstatieren sind. Temperament ist die Verlaufsform der Gemütsbewegungen, ihre Intensität, ihre Grundstimmung und ihr Lebensbezug. Von alters her sind die vier Temperamente des Cholerikers, Sanguinikers, Melancholikers und Phlegmatikers bekannt. Was aber Temperament genannt wird, ist meistens auch in seiner Ausdrucksweise vom Charakter mitgeformt. So spricht man vom cholerischen Charakter, zumal Wut und Zorn nicht angeborene seelische Konstanten sind, sondern Instrumente des sozialen Verhaltens.

Die Charakterlehre von Alfred Adler (Über den nervösen Charakter, 1912) war ein entscheidender Schritt zu einer psychoanalytischen Charakterologie. Eine biologische Bindung von Charaktereigenschaften an das organische Substrat lehnte Adler ab. Die biologischen Gegebenheiten eines Menschen sind zwar immer dominante Kräfte, aber sie determinieren nicht den Charakteraufbau. Auch die Umwelt ist kein Kausalfaktor, sondern nur eine „verlockende und verleitende" Bedingung dafür, was das Kind spontan aus diesen inneren und äußeren Rahmengegebenheiten ‚macht'. In diesem Sinne ist jeder für seinen Charakter mitverantwortlich. Natürlich kann das Kind nicht im eigentlichen Sinne wählen, da es primär pathisch in seiner Umwelt lebt. Aber es gestaltet seine Wesenszüge eigenschöpferisch mit, indem es Umwelteinflüsse interpretiert und auswertet. Adlers Theorie rührt an das (metaphysische) Freiheitsproblem, das empirisch-wissenschaftlich kaum entschieden werden kann. Aber schon in pragmatischer Hinsicht ist es nicht ungünstig, wenn wir dem Menschen einen „Freiheitsspielraum" zuerkennen; denn der Charakter als Schicksal ist ein wohlfeiles Argument, um unerwünschte Verantwortung abzuweisen.

Charakterzüge sind nach Adler "Leitlinien", mittels derer sich das jeweilige Individuum auf ein erträumtes Zukunftsziel hinbewegt und in der Unübersichtlichkeit der Welt Orientierung gewinnt. Hat man einen Charakter, dann ist auch ein Maßstab vorhanden, mit dem wir die Erlebnisse und Ereignisse subjektiv einstufen können. Das Handeln wird zielgerechter, entschlossener und konstanter. Diese Konstanz ist so groß, dass wir – wenn man einen Charakter kennt – bei einer gegebenen Situation fast Voraussagen darüber machen können, wie dieser Betreffende reagieren wird.

Adler beschrieb u.a. (in: Menschenkenntnis, 1927) Charakterzüge aggressiver und nicht-aggressiver Natur. Unter den Ersteren figurieren z.B. Ehrgeiz, Eitelkeit, Neid, Geiz, Eifersucht, Hass, Misstrauen, aber auch Angst, Trauer, Pessimismus usw. Mittels dieser Eigenschaften versuchen wir uns über die Mitmenschen zu erheben, und sei es auch nur durch Ausnützung ihrer Milde und Hilfsbereitschaft (so in den bloß passiv scheinenden Haltungen der Ängstlichkeit und des traurigen Verstimmtseins). Solche Charaktertendenzen entspringen übermäßigen Minderwertigkeitsgefühlen, die kompensiert bzw. überkompensiert werden. Es will eben jeder Mensch sein Selbstwertgefühl hochhalten, wozu ihm neurotische Manöver verhelfen sollen.

Soziale Charakterzüge hingegen wurzeln im Gemeinschaftsgefühl und verbinden die Menschen miteinander. Hier sind zu nennen: Wohlwollen, Mut, Güte, Hilfsbereitschaft, Fleiß, Optimismus, Freude, Kontaktfähigkeit. Auch diese Eigenschaften sind Leitlinien der Orientierung in der Welt. Während die aggressiven Charakterzüge primär nur unser privates Bewusstsein stimulieren, tendieren die sympathetischen zur realen Vereinigung mit dem Mitmenschen. Sie ermöglichen den kulturellen Zusammenschluss.

Doch eine Charakterologie allein führt noch nicht ...

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