Affekte

Affekte - Wildwasser der Seele

Vermutlich waren die Griechen die ersten, denen unser menschliches Affektleben in seiner unkontrollierbaren Heftigkeit zum Problem wurde. Ein Blick in die Ilias von Homer präsentiert eine uns befremdlich anmutende Kultur männlichen Kampfesmutes. Affektbeherrschung stand hier offenbar noch nicht auf der Tagesordnung. Das Leben in der historisch viel späteren griechischen Polis dagegen zeigt diese vitalen Strebungen bereits in geordneten Bahnen. Hier haben schon Formen des ritualisierten Umgangs miteinander ihren Raum gefunden: Der öffentliche Dialog, Schönheit der Form im Stadtbild und die Pflege von sportlichem Wettkampf, aber auch rhetorischem Geschick. Und nicht zuletzt gab es eine Götterwelt, der all die wunderbaren Tempel gewidmet waren samt ihren Festen und lebensbestimmenden Riten. Doch die heftige Rivalität der Stadtstaaten untereinander sollte auf Dauer zum Untergang dieser Hellenen führen. Bei Jacob Burckhardt, einem Bewunderer ihrer ästhetischen Kultur, heißt es über dieses Volk lapidar: „Griechen – Mörder von Mitgriechen“. 

Die Stoiker (in der Endphase der hellenischen Kultur) waren die ersten, die sich in ihren Philosophenschulen diesbezüglich als Psychotherapeuten versuchten. Ihre Philosophie wurde zur lebenspraktischen Unterweisung, die eine durch nichts zu irritierende Seelenruhe intendierte. Askese-Übungen sollten helfen, der eigenen Affektivität Herr zu werden. Die Römer übernahmen diese Haltung in Philosophie und Kunst. Auf unser Thema zurück kam dann erst wieder im Barockzeitalter Baruch de Spinoza in seiner Ethik. Sie enthält eine erste Theorie der menschlichen Affektivität. Hierin sind diese Leidenschaften die unerwünschten Störquellen, die unsere Befähigung zur Vernunft (Rationalität) untergraben. Spinozas Gedanken zum Verhältnis von Affekt und Vernunft gingen später in die Psychoanalyse ein. Auch Freuds „Sublimierungstheorie“ ist spinozistisches Denken. Bei Schopenhauer und Nietzsche erfahren die unerwünschten Emotionen eine Rehabilitierung. Letzterer sprach von den Wildwassern der Seele oder dem fruchtbaren Erdengrund, die es zu nutzen bzw. zu kultivieren gelte. Das richtet sich gegen die damals noch dominierende Philosophie des deutschen Idealismus, die um den menschlichen Leib einen großen Bogen schlug. Nicolai Hartmann dagegen bejaht in seiner Ethik (1926) das Natürliche und Triebhafte von einer Position jenseits von Materialismus und Idealismus.

Heutige naturwissenschaftliche Beschäftigung mit der menschlichen Affektivität ging von Darwins Abstammungslehre aus. Dass der Mensch ein Naturwesen ist, kann niemand ernsthaft bestreiten. Das darf jedoch nicht so aufgefasst werden, dass wir in der tierischen Biologie die Lösung aller Rätsel des Menschenlebens finden könnten. Mit unseren Vorgängern teilen wir manches, nur nicht das, was gerade unsere spezifische Lebensweise ausmacht: den unnatürlichen Lebensraum. Schon biologisch ist der Mensch nicht einfach nur eine neue Tiergattung. Denn die Sinnesorgane des Tieres werden von Instinkten darüber belehrt, wie sie zu reagieren haben. Wie diese funktionieren, das hat die Biologie mit der Erforschung des Zusammenwirkens von Bewegungsapparat, Instinktregulation und der hier zur Debatte stehenden Rolle der Affektivität erst spät herausgefunden. Das geheimnisvoll Neuartige, das mit den Tieren in die Welt kam, heißt Bewusstsein. Das war keine einfache Organfunktion, sondern ermöglichte die vereinheitlichende Organisation eines komplexen Zusammenspiels der Sinnesorgane mit dem Bewegungsapparat. Sie gestattete autonome Orientierung innerhalb eines artspezifischen Biotops. 

Die Frage der erfolgreichen Selbststeuerung seiner Bewegungen ist beim Tier Überlebensfrage. Was sich von Seiten der Umwelt zeigt, muss treffsicher in angepasste Bewegungsreaktionen umgesetzt werden. Hierbei spielen die Affekte ihre Funktion aus. Was die Sinnesorgane registrieren, geht einher mit (affektiven) Aufwallungen des Gesamtorganismus. Die wiederum induzieren genetisch vorgegebene (instinktgeleitete) Bewegungsabläufe wie Angriff oder Flucht. Neben den Fernsinnen (Sehen, Hören und Riechen) sind diese Affekte so etwas wie organsprachliche Kommunikationsmittel. Ihr Modus ist emotionale Ansteckung von Tier zu Tier. Ohne diese affektgetragene ‚Sprache‘ könnte das Tier die lebensnotwendige kommunikative Verbindung mit den Artgenossen nicht herstellen, hätte nicht das Mittel, um nötigenfalls durch räumliche Distanzierung unerwünschten Kontakten aus dem Wege zu gehen.

Hier liegt nun der zentrale Unterschied in der Wirkungsweise von Affekten:  Das Tier kann nicht entscheiden, welches seine Reaktion sein soll. Die Instinkte belehren seine Organe darüber ohne unnötige Umwege vermittels einer ‚Bewertungsinstanz‘, die sich verzögernd einmischen könnte. Diese affektgestützte innere Stimme ermöglicht keine Entscheidung, was hier zu tun wäre. Darin liegen Sicherheit und auch die Anmut tierischer Bewegungsabläufe. Unser menschliches Bewusstsein ist da von ganz anderer Art. Es mischt sich in Lebensfragen oft unangenehm ein. Und es kennt die Angst als seinen ungebetenen Begleiter.

Einen bedeutsamen Beitrag zur Rolle der Affekte bei der menschlichen Bewusstseinstätigkeit lieferte Sartre (1938) mit seiner Skizze einer Theorie der Emotionen. Darin geht es ihm um den eigentümlichen Sachverhalt: Unsere Affekte induzieren eine je spezifische Eintrübung unseres Bewusstseins. Was wir gewöhnlich als Geist begrifflich fassen, heißt in der Phänomenologie Sartres Cogito. Er meint damit ein Bewusstsein, das die Welt wie ein Scheinwerfer ausleuchtet. Letzteres ermöglicht im Normalfalle den ungetrübten Blick auf die Dinge. Wird aber dieses klare Bewusstsein von einem Affekt erfasst, so wird es opak, also eingetrübtDie Art dieser Eintrübung variiert mit der spezifischen Affektivität. 

Aufgrund des schon erwähnten kommunikativen Charakters der Affekte hat deren Fähigkeit, das Gegenüber zu affizieren, weitreichende Folgen für das Verhältnis der Menschen untereinander. In jedem Falle beeinträchtigt sie die Vernunft des Einzelnen und insbesondere von Gruppen. Das darin liegende ethische Problem behandelt Sartre nur indirekt. Wenn die Klarheit des Bewusstseins in seinem Denken den höchsten Wert einnimmt, dann ist die Affektivität weniger wertvoll. Herrschaft des Menschen über den Menschen bedient sich unserer Affizierbarkeit. Wer über unsere Affektivität Herrschaft gewinnt, dem nämlich unterwerfen wir uns mehr oder weniger freiwillig. Die großen politischen Verführer gewinnen dann ihre Macht über uns, weil wir es als Erleichterung empfinden, wenn weniger Verantwortung auf uns lastet. Die Rolle der Angst im gesellschaftlichen Zusammenleben und damit die Frage nach ihrer ‚Domestizierung‘ dürfte eines der Schlüsselprobleme bei der Entwicklung jeder Kultur sein. Insofern wirft die Problematik unserer Affektivität unmittelbar die Frage nach den Bedingungen menschlicher Autonomie oder der Befähigung zur Freiheit auf.

Die Ethik des Hellenismus hatte die Erlangung von Selbstbeherrschung zur Zentralfrage erhoben. Die Tiefenpsychologie steht in vieler Hinsicht in dieser Tradition, denn sie führt das Projekt der Aufklärung weiter, die sich der Antike verpflichtet gefühlt hatte. Was im Gefolge Sigmund Freuds hierbei über den Zusammenhang von AffektGefühl, Ich und Persönlichkeit zutage gefördert wurde, soll im Folgenden umrissen werden.

Ein Grundbegriff der tiefenpsychologischen Praxis und Theorie ist die Ichschwäche. Das Ich des seelisch gestörten Patienten ist schwach, hilflos, verängstigt, ohnmächtig und beziehungsarm. Es versteht weder nach innen und nach außen so recht, was da mit ihm geschieht. Was aber ist unter diesem Ich zu verstehen? In Freuds Trieb-Metaphorik scheint der Zusammenhang einfach: Das Ich ist hier nur eine Funktion, die gewissermaßen aus der Trieb- bzw. Affektsphäre herauswächst. Damit ist jedoch nichts über sein Wesen gesagt, sondern bloß eine genetische Ursprungshypothese formuliert. Die menschliche Affekt-Thematik und ihre Rolle für das, was wir Ich oder besser Person nennen, geht offenbar über psychologische Sachverhalte hinaus. Jedoch lässt sich in der psychodynamischen Betrachtungsweise des Seelischen als wesentliches Element immer die Affektivität erkennen. Das gilt explizit für Alfred Adlers Charakterologie. Hier wird ein affektgetriebenes Notfallprogramm beschrieben, auf das wir angesichts überfordernder Lebenssituationen zurückgreifen. Auf dieser Spur folgen Karen Horneys Neue Wege in der Psychoanalyse (1939), denen man ihre individualpsychologische Herkunft anmerkt. Auch hier besteht das Ziel der Psychotherapie in der ‚Entschärfung‘ des Affektproblems.

Heute sind sich die tiefenpsychologischen Schulen weitgehend darüber einig, dass es bei ihrer Arbeit um Einwirkung auf eine Affektdynamik geht. Als maßgebliche Rolle in unserem Verhältnis zur Welt und zu uns selbst sind die Affekte gewissermaßen Bausteine des individuellen Charakters. Schon beim Säugling kann man beobachten, dass er früh seine bevorzugte Art der Affektreaktion ‚wählt‘: Angriff (Wut), Anlehnung (Furcht) oder Abstand (Ekel). Wut z.B. bildet das Kernstück von Eifersucht, Neid oder Ehrgeiz. Feindseligkeitserleben wird zur ängstlich-depressiven Haltung ausgebaut. Der distanzierte Typus übt sich in der Affektunterdrückung. In den affektiv untermauerten Charakterzügen liegt ein Potenzial an Leidenschaft, das sich bis zur Besessenheit steigern kann. Sie sind Erscheinungen unseres Seelenlebens, die im Sinne Adlers eindeutig auf der Macht-Ohnmacht-Linie liegen. Wir können dann in der Regel einen Kompensationsmechanismus beobachten, mit dem das zugrunde liegende Minderwertigkeitserlebnis verarbeitet wird. 

Aus den wenigen Andeutungen geht schon hervor, warum das von manchen Therapieformen favorisierte Ausleben-Dürfen der Affekte vermutlich nicht zur Verminderung unserer Affektbereitschaft führt. Wenn die ‚Sprache‘ des Affekts ein Idiom für Fälle der Not ist, dann dürfte seine Übersetzung in unsere Umgangssprache schon eher weiterführen. 

Freud und vor ihm Spinoza hatten zunächst geglaubt, die intellektuelle Analyse des Affektgeschehens im Sinne einer Bewusstmachung nehme ihm seine pathologische Wirkung und mache den Weg zu einer Neuverteilung der seelischen Energie frei. Diese Hoffnung trog bekanntlich. Daraufhin verfeinerte sich Freuds Vorstellung der Neurosentherapie im Konzept der Analyse des „Übertragungsgeschehens“: Im „Feuer der Übertragungsliebe“ sollte der tief in der frühkindlichen Charakterentwicklung verwurzelte Affekt gemeinsam in der therapeutischen Beziehung erlitten, erlebt und verstanden werden. Darin lag seine Idee der „Sublimierung“, mit der aus der infantilen Konfliktverarbeitung die reife Vernunft hervorgehen sollte.

Festzuhalten ist bei alledem, dass in Freuds Therapie-Vorstellung die gegenwärtigen Krankheitserscheinungen gebessert werden können, wenn die falsche Konfliktbearbeitung in frühen Kindertagen sozusagen an der (von ihm so gedachten) Ausgangsstelle besser gelöst würde. Heilsam in dieser Interpretation von Psychotherapie ist demnach die höhere Vernunftbefähigung des Therapeuten in der Rolle eines Lebenslehrers. Unüberhörbar ist hier, dass wir Menschen im Sinne der Sublimierungsidee uns über die ‚Niederungen‘ der Affekte erheben sollen. Ein neuer Leitstern soll unserem Horizont eingefügt werden; bei Freud war es die „leise Stimme der Vernunft“, die sich als zentraler Gesetzgeber der Menschheit eigne. Diese allgemeingültige Orientierungsmarke wäre dann der Wegweiser, der eine autonome Verantwortung für die Lebensentscheidungen ermöglichen soll. In Freuds Sicht sind immer nur Einzelne zur Vernunft befähigt. Diese von der bloßen Masse Abgesonderten finden ihre Heimat in einer nur prinzipiell allen offenstehenden Vernunftsphäre. 

Das war keine eigentliche neue Vorstellung, denn die philosophischen Köpfe seit den Anfängen der Aufklärung hatten in ihrer jeweiligen Terminologie Vergleichbares propagiert. Neuartig bei Freud war der Versuch, eine genetische Verbindung von Triebleben und menschlicher Vernunft ins Zentrum zu stellen. Damit wollte er den bisher so geringen Erfolg seiner Vorläufer in Sachen Affekt-Sublimierung erklären. Ob sein geistiger Beitrag der gemeinschaftlichen Lebensrealität gerecht wird, ist schwer zu entscheiden. Es ist ja nicht ausgemachte Sache, dass die Weise, wie ein Sigmund Freud den eigenen Weg gegangen ist, ein verallgemeinerbares Vorbild abgeben könnte. Freud selbst sah das nicht so, denn für ihn war die „Masse“ der Führung bedürftig. Er selbst hatte sich mit seinen Erkenntnissen aus eigener Kraft einen Platz in die Geschichte der Vernunft eingeschrieben. Dazu befähigt, so sah es Freud, hatte ihn das Schicksal als Angehöriger einer bedrängten Minderheit: Nur ein gesellschaftlicher Außenseiter habe so rücksichtslos eine neue Weltanschauung schaffen können.

In dieser Bekundung jedoch klingt unüberhörbar ein hartes Urteil über die Insider-Existenz. Die Lebensweise der „Masse“ wird hierdurch zu einer Defizienzform des Menschseins. Es gleicht einem bloßen Dahinleben in Selbstentfremdung oder schlicht in Dummheit. Wo Vernunft sein soll, da findet sich affektive Triebhaftigkeit. Es wäre zu erwägen, ob nicht Alfred Adlers Vorstellungen über die Schwierigkeiten des menschlichen Zusammenlebens, zu denen Begriffe wie „Gemeinschaftsgefühl“, „Logik des Common sense“ oder „Mitmenschlichkeit“ zählen, andere Problem-Dimensionen andeuten. In meinen Ohren klingt darin ein Verständnis an, das unsere Lebensbewegung nicht in einem dualistischen Bild von Verführten versus Selbstführern wie eine alternative Wahl beschreibt. 

Adler formulierte hierzu noch kein anthologisches Konzept. Es fehlt noch eine ausgearbeitete (ontologisch-anthropologisch fundierte) Affekttheorie einerseits sowie eine Grundlegung des Gefühlslebens auf der anderen Seite. Vielleicht steht ja der Gegensatz von Affekt und Ratio gar nicht so sehr im Zentrum des Problems. Es könnte sich zeigen, dass wir alle in einer Welt existieren müssen, in der für die angestrebte Vernunft, für die erwünschten höheren Wertsetzungen gar kein adäquater Lebensraum gegeben ist. Denn Wertvolles kann nur in der zu ihm auch adäquaten Situation realisiert werden. Gewiss gibt es sehr viel in unserer Welt, was wertvoll ist und damit liebenswert. Doch wenn der gesellschaftliche Raum nun einmal die eigentliche Heimat von uns Menschen ist, dann geht es für uns um die Frage, wie ein solcher Ort beschaffen sein müsste, damit hier Menschenleben realisierbar würde. Unsere reale Lebenswelt behindert vermutlich gerade dies; sie induziert offenbar eine Daseinsangst, die sich in Daueranspannung und Ermüdung bekundet. Vielleicht liegt darin die latente Grundaffektivität des heimatlosen Weltbürgers. Was Alfred Adler mit seinem schwierigen Begriff des „Gemeinschaftsgefühls“ in den Blick nahm, das war vermutlich mehr als nur eine schöne Utopie. Wichtiger erscheint mir das darin aufscheinende Problem der Bedingungen für ein menschengemäßes Miteinander.

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