Phänomenologie

Die unbekümmerte Wesensschau - zurück zu den Sachen selbst

Phänomenologie (griech.) als methodische Haltung meint so viel wie, das Wesentliche unmittelbar zur Erscheinung bringen. Diese philosophische Strömung wurde zu Beginn des 20. Jhdts. begründet und geht entscheidend auf Edmund Husserl (1859-1938) zurück. Sie übte Einfluss auf Alexander Pfänder, Max Schelers Wert-Ethik, den Existentialismus von Heidegger, Martin Buber, Karl Jaspers; in Frankreich waren es J.-P. Sartre, Merleau-Ponty u.v.a., die diese philosophische Strömung aufgriffen.

Zur Veranschaulichung der deskriptiven Betrachtungsweise in der Phänomenologie ein Beispiel: Die Skulptur des Diskuswerfers (Diskobol des Myron; 440 v.Chr.) ist eine der bekanntesten griechischen plastischen Bildwerke überhaupt. Als Betrachter glauben wir sozusagen dem Moment des dynamischen Vollzuges seines Wurfes zuzusehen. Doch was wir als Bewegung zu sehen vermeinen, das ist bloße Erscheinung für uns. Und doch können wir diesen Eindruck beinahe mit jedem Betrachter teilen. Obwohl die Statue völlig bewegungslos vor uns verharrt, erlebt der Betrachter gerade ihre Bewegtheit als das Wesentliche der Wirkung dieser Skulptur. 

Ähnlich können wir die Moses-Statue von Michelangelo betrachten. Freud setzte sich über viele Jahre intensiv mit dieser Figur auseinander und stellte sich die Frage: Ist dieser Moses im Begriff, die Gesetzestafeln im Zorn zu zerschmettern, nachdem er das jüdische Volk um das goldene Kalb tanzen sieht? Oder beherrscht er in diesem Moment gerade seinen Affekt, so dass die Tafel eben nicht zerschellen und damit der für ihn höchste Wert bewahrt wird? Freud meinte (gegen alle Deutungen der Fachwissenschaft) herauszulesen, dass Michelangelo die letztere Auffassung (Sublimierung des Zornaffekts) in die Skulptur hineingearbeitet habe. 

Wie lässt sich der hier angedeutete Sachverhalt aus dem Bereich der Ästhetik auf die Therapiesituation übertragen? Als Psychotherapeuten sind wir immer wieder mehr oder weniger massiv mit unserem Nicht-Verstehen des Patienten konfrontiert. Er kann uns seine Geschichte erzählen. Aber seine Lebensbewegung zeigt sich dem phänomenologisch Geschulten auch noch da, wo eigentlich nichts geschieht. Wir stehen dann sozusagen wie vor einer gefrorenen Ausdrucksbewegung, zu deren Verstehen uns der lebendige Zusammenhang noch fehlt. Ganz ähnlich geht es uns beim ersten Lesen eines noch unvertrauten literarischen Textes. Uns überfällt beispielsweise ein Unbehagen wegen des Inhalts. Wir sind verwirrt und beunruhigt über noch unverständliche Textpassagen. Auf diese Regungen können wir mit Ablehnung und Rationalisierungen reagieren oder aber mit dem Versuch, diese Bedrängnis auszuhalten und irgendwann vielleicht mit dem Verstehen belohnt zu werden. Deshalb spricht J.P. Sartre auch davon, dass solches Lesen einen „Akt von Großherzigkeit“ voraussetze. Wir müssen dem Autor ebenso wie dem Patienten unseren „guten Willen“ zur Verfügung stellen, wenn wir irgendwann mit der Freude gemeinsamen Erkennens belohnt werden wollen. 

Diese auf gemeinsame Einsicht gerichtete Aufmerksamkeit geht davon aus, dass der Mensch sein eigenes Wesen nicht in irgendeiner Selbstbeschau entdecken kann. Es zeigt sich uns günstigenfalls in der Begegnung mit einem Du. In der Sprache Max Schelers: der andere ist uns nur im Vollzug emotional-transzendenter Akte, mit denen wir die Grenze zur Außenwelt überschreiten, präsent. In dieser dialogischen Beziehung bestätigt sich unser Existenzgefühl. Emotional transzendent ist alles Hoffen, Erwarten, unser Lieben und unser Handeln. Bei Max Scheler heißt es dazu: Das Ich findet sich im Du wieder, bei Martin Buber finden wir die Formulierung: Der Mensch wird erst am Du zum Ich und Wilhelm Dilthey spricht vom Verstehen als ein Wiederfinden des Ich im Du.

Das Wirgefühl mit den anderen als emotionales Erleben kann sich zur Erkenntnis hin ausweiten. Erkenntnis setzt voraus, dass es eine Vernunft gibt, an der jeder teilhaben kann. So ist auch schon das Fühlen eine Teilhabe an etwas objektiv Gegebenem, das unser Erleben einer gemeinsamen Welt erst ermöglicht; gleichermaßen gibt es auch die Erkenntnis nur als Teilhabe an einer allgemeinen Vernunft, so wie es nie eine bloß individuelle Wahrheit gibt. 

Phänomenologie verlangt, dass wir uns freimachen von ideologischen Begriffssystemen und methodologischen Vorurteilen, die uns in Fleisch und Blut übergegangen sind. So sind wir als Psychotherapeuten beispielsweise darin sozialisiert, allenthalben nach den Ursachen vermeintlicher oder auch realer ‚Störungen‘ zu forschen. Auf der Strecke bleibt dabei die Lebenswelt des Patienten, die erst den Hintergrund jedes ernsthaften Verstehens abgibt. 

Dem können wir in der psychotherapeutischen Begegnung entgehen, wenn es gelingt, die Erzählung des Patienten möglichst unverstellt in den Blick und dabei die eigenen Empfindungen und Intuitionen ernster zu nehmen. Eine solche innere Einstellung forderte sinngemäß Husserls Schlachtruf „Zurück zu den Sachen selbst!“. Das bedeutet Verzicht zu üben auf ‚wissenschaftlich sicher fundierte‘ Voreingenommenheiten – seien es nun die von ... 

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