Dressat

Die Macht selbst geschaffener Imperative

Den Begriff Dressat prägte Fritz Künkel für seine Dialektische Charakterkunde. Heute kaum noch verwendet, beleuchtet dieser Ausdruck jedoch treffend unglückselige Persönlichkeitsentwicklungen, wie sie uns in der Psychotherapie allenthalben begegnen.

Wer von „Dressur" spricht, evoziert unwillkürlich so etwas wie Manipulationen, die von außen einwirken sollen. So werden etwa Tiere dressiert, damit sie bestimmte Leistungen oder gar Kunststücke vollbringen. Leider geschieht das auch am Menschen; besonders im frühen 20. Jahrhundert sah man in der Erziehung eine Art der Verhaltenskonditionierung, mit der man die Kinder ‚abrichten' wollte, als ob sie Tiere wären.

Aber Künkel meinte nicht die Dressur von außen, sondern von innen. Als Individualpsychologe ging er davon aus, dass der Mensch seinen Lebensstil und sein Verhaltensrepertoire irgendwie selbst schafft, natürlich weitgehend beeinflusst von der Umgebung und der Umwelt. Aber ein gewisser Freiheitsspielraum wird eingeräumt; in dieser Auffassung folgt Künkel seinem ‚Lehrer' Alfred Adler. Diese Freiheit kann der Heranwachsende nur aufrechterhalten, wenn er den Mut zum Leben und eine relative Angstfreiheit nicht verliert.

Kommt es aber zu ausgeprägten Traumatisierungen und Verängstigungen, dann wird das Frei- und Initiativ-Sein zumindest teilweise zugunsten einer reaktiven Mechanisierung aufgegeben. An die entsprechende Stelle treten dann die Dressate, die als schematische Verhaltensmuster Merkmale einer Psychosklerose darstellen. Zweck der selbst geschaffenen und nun zwanghaft gewordenen Handlungs- und Erlebnismaximen ist die Angstvermeidung. Künkel sagt in seinem Buch: Charakter, Leiden und Heilung (1934):

Das Subjekt verzichtet unter dem Druck der frühen schweren Erlebnisse auf einen Teil seiner Freiheit, seiner Produktivität und seiner Lebendigkeit, um überhaupt noch als Subjekt vorhanden zu bleiben. Wie ein König nach verlorenem Krieg die Hälfte seines Landes preisgibt, um den Rest für seine Krone zu retten, so werden hier die subjektalen und produktiven Vorgänge mehr oder weniger gründlich in objektale und mechanische Abläufe verwandelt, damit an anderer Stelle noch ein kleiner Rest von Subjektität gerettet werden kann. (S. 89)

An die Stelle eines spontan-lebendigen Daseinsvollzugs tritt schließlich ein Charakterpanzer, mit dessen starren Gesetzen das unsicher-ängstliche Ich vor der feindlichen Umwelt geschützt werden soll.

... es sind neue, halb willkürlich, halb zufällig entstandene Regeln, die nicht nach ihrem Inhalt, sondern nur nach ihrer Starrheit den Naturgesetzen ähnlich sind. Wir nennen sie „Dressate", weil sie wie das Ergebnis einer Dressur die Handlungsweise des Menschen bestimmen, unbewusst, zwangsläufig und der willentlichen Änderung entzogen. Hinter ihnen aber steht als drohende Sanktion die Angst; und wenn die Angst verschwände, würden auch die Dressate Ihre Macht verlieren; – der Alkoholiker würde nicht mehr trinken müssen, der Ehrgeizige würde eine Niederlage leicht ertragen, der Zwangsneurotiker würde keinen Zwang mehr spüren, und die Psychosklerose würde dem Leben das Feld räumen, sobald die Todesangst oder Lebensangst sich in Vertrauen oder Mut verwandeln ließe.

Solche Dressate können sehr mannigfaltig sein. Bei trotzigen Kindern heißt der Imperativ etwa: „Ich muss immer das Gegenteil von dem tun, was die anderen von mir erwarten!" Ängstliche Kinder trainieren zwanghaft eine Haltung ein, die den Rückzug ermöglicht: „Ich muss immer davonlaufen oder passen, wenn irgendetwas schwierig wird!" Managertypen folgen der starren Parole: „Ich muss immer erfolgreicher als die anderen sein; nur wenn ich meine Rivalen überrunde, fühle ich mich wertvoll!" Und Asketen haben die Maxime: „Nie mich dem Trieb überlassen; ich muss meine Begierden niederringen, bis sie verstummen!"

Der ursprüngliche Wunsch Subjekt sein zu wollen, gerät mit derartigen Imperativen in einen unauflösbaren Teufelskreis. Wer zwanghaft immer auf dieselbe Weise reagieren muss, wird zum Objekt seiner selbstgesetzten Dressate. Hat man ein ganzes System davon errichtet, dann ist man ein Zwangscharakter oder Zwangsneurotiker. Gerade an diesem Krankheitsbild können die verheerenden Folgen von Selbstdressur deutlich studiert werden.

Bei dem französische Philosophen Alain heißt es: „Charakter ist ein Schwur oder ein Eid!" Genau das meint auch Künkel. Wer das Leben mit Dressaten bestreitet, hat sich irgendwann in seiner Lebensnot etwas geschworen, das dann zum beständigen Hindernis des Lebens wurde. Was aber lässt ihn an seinem Lebensirrtum so konsequent gegen alles damit verbundene Leid festhalten? Warum ist es in der Psychotherapie so schwer, das Wissen um die selbstverschuldeten Einengungen in die Rückeroberung eigener Freiheit zu verwandeln? Einerseits bringt ein reaktives Leben manche Bequemlichkeiten mit sich. Es suspendiert von der existenziellen Last, die mit dem Handeln notwendig einhergeht. Wer aus eigener Verantwortung seinen Weg wählt, kann sich nämlich beim Verfehlen des Ziels nicht auf fremdes Verschulden berufen. Es war dann meine Wahl und damit auch mein Versagen. Der mutig zum Handeln bereite Mensch weiß darum. Und er kann als Urheber des Gelingens das beglückende Gefühl genießen, wenn sein Mut vom Erfolg belohnt wird. So können sich mit gewonnener Lebenskraft und Gefühlsentwicklung neue ‚positive Dressate' entwickeln, die sich flexibel den Situationen ...

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