Individualpsychologie

Individualpsychologie - die Lehre vom unteilbaren Ganzen

Alfred Adler ist – neben Sigmund Freud und C. G. Jung – einer der Pioniere der Tiefenpsychologie. Lange Zeit stand er im Ruf eines Populär-Psychologen, aber es gibt zunehmend diejenigen, die sich von diesem Ruf nicht abhalten lassen und die Genialität und Größe dieses Mannes entdecken. Vielleicht wird die Zukunft doch zeigen, dass Adler für das Werden einer lebensnahen, für jedermann hilfreichen psychologischen Disziplin mehr getan hat als jene Pseudo-Wissenschaftler, die ihre Ignoranz hinter subtil aufgebauten Systemen versteckt haben. In Adler ist Psychologie wissenschaftliche Menschenkenntnis geworden; als solche sollte sie die Grundlage für die allgemeine Persönlichkeitsbildung werden. Wer sich auch nur ein wenig in der Geschichte des Faches auskennt, kann nicht übersehen, dass Adlers gedanklicher Reichtum ohne Herkunftsangabe den Grundstock zu mancher Schul-Neugründung abgab. 

Fast ein Jahrzehnt (1902-1911) war Adler prominentes Mitglied im psychoanalytischen Kreis der Mittwochsgesellschaft. Weil die theoretischen Divergenzen mit Freud unüberbrückbar wurden, traten Adler und manche seiner Mitstreiter um 1911 aus der Psychoanalytischen Vereinigung aus.

Anlass war seine Kritik an Freuds Sexualmythologie und dem darauf bauenden System. Adler sträubte sich dagegen, eine psychische Einzelkomponente zu verabsolutieren. Als Vertreter eines Ganzheitsdenkens war er bedacht, alle Teile aus dem Ganzen und das Ganze aus seinen Teilen zu verstehen. Nur auf diese Weise meinte er, der Struktur der menschlichen Psyche gerecht werden zu können. Auch vom kausalistischen Fatalismus der Psychoanalyse fühlte Adler sich abgestoßen; für ihn bedeutete das Seelenleben eine schöpferische Selbstgestaltung, wenn auch unter den vorgegebenen Bedingungen. Seiner Auffassung nach kann eine seelische Fehlentwicklung nicht einfach auf (angenommene) Ursachen zurückgeführt werden. Ob ein Geschehen traumatisch verarbeitet wird, liegt nur zum Teil an der Schwere des Vorgefallenen; es kommt immer auch darauf an, wie das Kind die gesunden und pathogenen Einflüsse verarbeiten kann und ihnen damit für die eigene Biographie ihre Bedeutungen zuweist. 

So wird dem Menschen in gewisser Weise eine Eigenbeteiligung an Lebensglück und -unglück zugeschrieben. Es hilft dem Betroffenen wenig, wenn er sich von aller Verantwortung entlasten darf; woher soll er dann die Kraft und Motivation nehmen für die mit der Umorientierung und der Aufbau einer gesünderen Zukunft verbundene Arbeit. Adler wollte seine Patienten zur Übernahme von Verantwortung für ihr Leben gewinnen und in gewisser Weise auch erziehen.

Adler ahnte, dass die Individualpsychologie als bloße „Seelen-Heilkunde“ für Kranke falsch und ungenügend verstanden wäre. Er hoffte auf ihre Verbreitung als Weltanschauung im weitesten Sinne, die langfristig der Prophylaxe seelisch-körperlicher Störungen dienen sollte. Daher sein Blick auf die Ressourcen, auf die Kraftquellen weiteren Wachstums der Person. Das Individuum stand im Mittelpunkt seiner psychologischen und pädagogischen Arbeit. Damit vertritt er keinen ‚Individualismus‘, sondern eine sozial akzentuierte Ganzheitsidee vom Menschen. Das isolierte Einzelwesen existiert nur in der Forscher-Phantasie als eine falsche Abstraktion von den realen anthropologischen Bedingungen. Die aber bestehen in der immer schon vorgegebenen Beziehung des Individuums auf die Ganzheit der irdischen Lebensverhältnisse. Das ist weniger die Natur als die von anderen Menschen geschaffene Kultur, zu der jeder seinen Beitrag leisten sollte; denn nur im Maße dieses Mit-Tuns und Mit-Leidens an einer selbstgeschaffenen Menschenwelt wächst unser Selbstwertgefühl

Von dieser Lebensanschauung ausgehend gab Adler seiner Lehre die Bezeichnung Individualpsychologie, die vom lat. Begriff in-dividuum, also dem Unteilbaren abgeleitet ist. In dieser Auffassung verkörpert der Einzelne eine Totalität, eine unteilbare Ganzheit. Adlers Menschenbild stellt damit die Einheit der Persönlichkeit ins Zentrum seiner Theoriebildung. Methodologisch erfordert das, dass in der Psychotherapie und auch der Erziehung jede Äußerung, jede Reaktion, jedes Symptom, jede Absicht, jedes Wollen als Ausdruckphänomen dieser Einheit der Persönlichkeit in ihrem sozialen Gesamtzusammenhang zu sehen und zu verstehen ist. Insofern ist Individualpsychologie notwendig eine Sozialpsychologie. Sie zielt auf die Idee des Mitmenschen, der sich seiner Verantwortung für jeden Einzelnen und für die Kultur zugleich bewusst wird. Deshalb sind kultur- und ideologiekritische Sichtweisen notwendiger Bestandteil dieser ...

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